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soulfire DNA – Teil 8: Nach außen gewandt (Teil 1)

Was ist eine nach außen gewandte Gemeinde? Wie entsteht sie? Und warum ist diese Eigenschaft so wichtig? Um diese Fragen für die Gemeinde zu beantworten, will ich am Beispiel eines einzelnen Menschen erklären, welcher Prozess da abläuft, welche Kraft am Werk ist, und welches Ziel verfolgt wird.

Wie der Mensch tickt.

Jeder Mensch lebt für sich selbst. Bei allem, was er tut, ist er letztendlich auf sich selbst ausgerichtet. Bonhoeffer schrieb: „Sünde ist die Verkehrung des menschlichen Willens (Wesens) in sich selbst. (…) Als sündiger Akt ist jede Entscheidung, die in selbstsüchtigem Sinne fällt, zu beurteilen.“ Das heißt, Sünde ist vor Allem eine Ausrichtung – die Ausrichtung auf sich selbst.

Das kann in der Praxis ganz unterschiedlich aussehen. Da gibt es auf der einen Seite diejenigen, welche die Selbstverwirklichung zur höchsten Tugend erhoben haben. Bei denen ist das wichtigste, das höchste Gut, dass ‚man seinen eigenen Weg geht‘. Persönliche Erfüllung und persönliches Glück sind die großen Lebensziele. Zum Erreichen dieser Ziele nutzen sie zwei Mittel: Selbstfindung (eigene Persönlichkeit, Wünsche und Träume entdecken) und Selbstbefreiung (Abschütteln aller inneren oder äußeren Einschränkungen). Diese Menschen haben eine starke Sehnsucht nach Freiheit, Erfolg und Spaß. Diese Lebensinhalte verfolgen sie pragmatisch: was ihnen hilft, diese Sehnsüchte zu stillen, darf bleiben (da kann auch die Religion zu gehören), was ihnen im Weg steht, fliegt über Bord. Sie haben offensichtlich ein egozentrisches Weltbild.

Auf der anderen Seite ist die ‚alte Schule‘. Das sind die Menschen, welche versuchen, ohne Reflexion und Rebellion glücklich zu werden. Man versucht, sich anzupassen, einzufügen und unterzuordnen – sei es in der Familie, der Gesellschaft, dem Staat oder der Kirche. Man tut ‚das Gute‘ und lässt ‚das Böse‘. Oberflächlich betrachtet das krasse Gegenteil zur anderen Seite. Doch die geistliche Dynamik, die Ausrichtung, die dahinter steht, ist die selbe. Der ‚gute Mensch‘ ist genauso auf sich selbst ausgerichtet. Für ihn sind die guten Taten, das ‚brav Sein‘, sogar die Frömmigkeit nur Mittel zum Zweck. Er sehnt sich nach Geborgenheit und Sicherheit. Und das versucht er, für sich zu erreichen, indem er sich an die gesellschaftlichen Normen hält.

Verlorenheit bedeutet u. a., dass der Mensch (egal, zu welcher Gruppe er tendenziell eher gehört) nur noch sich selbst hat. „Und jeder Gemütszustand, jedes sich Verschließen des Geschöpfes in dem Verließ seines eigenen Gemüts, ist am Ende Hölle.“ (C. S. Lewis) Er kann nicht anders, als sich um sich selbst zu drehen. Selbst bei den Persönlichkeiten, die sich völlig für andere aufopfern, kann es sein, dass sie es letztendlich für das eigene Gewissen, für das eigene Seelenheil tun. Der Mensch ist „in sich selbst gekrümmt“ (Luther), er „kann nicht nicht sündigen“ (non posso non peccare – Augustinus).

„Der Mensch tendiert immer dazu, sich nach innen anstatt nach außen zu wenden, weil er sich selbst ins Zentrum des Universums stellt und nicht Gott. (…) Das ist der Mensch in seiner Rebellion gegen Gott.“ (Francis Schaeffer)

Was das Evangelium bewirkt.

Jesus ist gekommen und gestorben, um uns aus diesem Gefängnis zu befreien. Durch seinen Tod am Kreuz wird Gottes radikale Liebe zu uns deutlich. Und die Botschaft von dieser Liebe zerbricht unsere Ketten. Gott ist Liebe. Er hat uns zuerst geliebt. Als wir noch Sünder waren, ist er für uns gestorben. Wenn wir das glauben, bewirkt diese Liebe in uns Gegenliebe. Sie befähigt uns, das zu tun, was wir vorher nicht tun konnten: wir hören auf, selbstzentriert zu sein, und beginnen, uns um Gott zu drehen. Und so wird auch selbstlose Nächstenliebe möglich. Luther beschreibt diesen Vorgang wunderbar:

„Der Glaube nämlich hat die Art an sich, dass er von Gott alles Gute erwartet und allein auf ihn sich verlässt. Aus diesem Glauben heraus erkennt dann der Mensch, wie Gott so gut und gnädig ist, und aus dieser Erkenntnis heraus wird sein Herz so weich und barmherzig, dass er jedermann auch gerne so wohl tun möchte, wie er fühlt, dass ihm Gott getan hat. So bringt er seine Liebe zum Ausdruck und dient seinem Nächsten von ganzem Herzen, mit Leib und Leben, mit Gut und Ehre, mit Seele und Geist und gibt alles für ihn dran, wie Gott ihm getan hat. Darum sieht er sich auch nicht nach gesunden, hohen, starken, reichen, edlen, heiligen Leuten um, die ihn nicht brauchen, sondern nach kranken, schwachen, armen, verachteten, sündigen Menschen, denen er nützlich zu sein vermag, an denen er sein weiches Herz üben und tun kann, wie Gott ihm getan hat.“ (Luther)

Von der katholischen Seite bekommen wir diese Erklärung von Papst Benedikt XVI: „Im Gegensatz zu der noch suchenden und unbestimmten Liebe ist darin die Erfahrung von Liebe ausgedrückt, die nun wirklich Entdeckung des anderen ist und so den egoistischen Zug überwindet, der vorher noch deutlich waltete. Liebe wird nun Sorge um den anderen und für den anderen. Sie will nicht mehr sich selbst — das Versinken in der Trunkenheit des Glücks –, sie will das Gute für den Geliebten: Sie wird Verzicht, sie wird bereit zum Opfer, ja sie will es.“ (Deus Caritas Est)

Das Evangelium von Jesus Christus befreit den Menschen, der sich nur um sich selber drehen konnte, und befähigt ihn dazu, anderen Menschen zu dienen. Die Motivation ist nicht Angst vor Strafe, oder die Hoffnung, die eigene Seele retten zu können, sondern Dankbarkeit und Freude über die unverdiente Liebe Gottes. Am Anfang des Weges mit Jesus ist das Realisieren und das Umsetzen dieser Freiheit oft noch ziemlich schwach. Jesus nachzufolgen heißt, in dieser Liebe praktisch zu wachsen. So funktioniert also das Evangelium: es kommt zu einem selbstzentrierten Menschen und macht ihn zu einem Gott-zentrierten Menschen, der für seine Mitmenschen lebt.

Was das für die Gemeinde bedeutet.

Leider fällt es häufig schwer, den gedanklichen Sprung vom Einzelnen zur Gruppe zu schaffen. Selbst wenn wir kapiert haben, wie wir als Menschen ticken, und was das Evangelium beim Einzelnen bewirkt, ist uns oft nicht klar, dass wir diese Erkenntnis dann auch auf die Gemeinde übertragen müssen:

Genau wie der einzelne Mensch hat auch eine Gemeinde die natürliche, sündhafte Tendenz zur Selbstzentriertheit. Passt man nicht auf, dreht sich die Gemeinde nur um sich selbst. Sie existiert dann zum Selbstzweck. Jedem soll es ‚geistlich gut gehen‘, wobei geistliche Reife eigentlich ganz anders aussieht. Natürlich soll die Gemeinde dazu da sein, Christen zu stärken, aufzubauen und auszurüsten, damit sie im Alltag als Christen leben können. Aber starke, lebendige Christen sind eigentlich nicht das Endziel, sondern Mittel zum Zweck.

Um dem natürlichen, aber falschen Denken entgegenzuwirken, muss man bewusst das Evangelium auf die Gemeinschaft anwenden. Man muss sich mit der Frage beschäftigen, wozu das Evangelium uns als Gemeinde machen will. Wie sollte das Evangelium der Gnade Gottes eine Gemeinde formen?

Die missionale Gemeinde.

Es gibt evangelistische Gemeinden, missionarisch aktive Gemeinden und missionale Gemeinden. Bei den ersten zwei Modellen stehen eigentlich eher Aktivitäten und spezielle Dienste im Vordergrund: evangelistische Veranstaltungen und Weltmission werden ermutigt und unterstützt. Und diese Dinge sind natürlich notwendig und wichtig. Doch die missionale Gemeinde geht noch etwas weiter – oder sollte ich sagen: tiefer? Bei der missionalen Gemeinde geht es überhaupt nicht in erster Linie um Aktivitäten oder Methoden, sondern um ein theologisches Selbstverständnis: der Platz der Gemeinde in der Missio Dei.

„Missional meint eine Art Glauben und Gemeinde zu leben, die sich an der Mission Gottes orientiert und mitten im Leben stattfindet.“ (Stefan Lingott)

„Die zentrale Realität ist weder Wort noch Tat, sondern das komplette Leben der Gemeinschaft: befähigt durch den Geist, um in Christus zu leben, seine Leidenschaft zu teilen, und an der Kraft seiner Auferstehung teilzuhaben.“ (Lesslie Newbigin)

Missio Dei ist ein lateinischer Begriff, mit dem man ausdrücken will, dass Gott ein sendender Gott ist: Der Vater sandte den Sohn indie Welt. Der Vater und der Sohn sandten den Heiligen Geist in die Welt. Und Jesus sandte seine Jünger in die Welt: „Wie der Vater mich gesandt hat, so sende ich euch.“ (Johannes 20,21) Gott ist ein sendender Gott. Bei diesem Denken steht diese Eigenschaft Gottes, sein Handeln im Mittelpunkt:

„Es ist nicht die Gemeinde Gottes, die eine Mission hat, sondern der missionarische Gott, der eine Gemeinde hat.“ (Rowan Williams)

Wenn diese Realität eine Gemeinde wirklich packt, hört sie auf, sich um sich selbst zu drehen. Sie wird verstehen, dass sie in die Welt gesandt ist, um durch Verkündigung, Zeugnis, Gottesdienst und praktische Dienste dieser Welt das Heil Gottes zu bringen. Nicht nur ist jeder einzelne Christ ein Missionar für sein Umfeld – die Gemeinde ist ein Missionar. Und als guter Missionar befasst sie sich mit folgenden Fragen:

  1. Was genau ist meine Botschaft?
  2. Was genau ist meine Mission?
  3. Wem soll ich diese Botschaft bringen/dienen?
  4. Werden sie die Botschaft verstehen?
  5. Sprechen wir die selbe Sprache?
  6. Haben wir das gleiche Weltbild?
  7. Welche Hindernisse gibt es?
  8. Wie kann ich lernen, unter ihnen zu leben, ohne meine Identität zu verraten?
  9. Welche Teile ihrer Kultur kann ich übernehmen, welche verändern, welche ablehnen?

Dabei folgt die Gemeinde dem Vorbild Jesu, der durch seine Menschwerdung und seine 30 Jahre der Vorbereitung genau durch diesen Prozess gegangen ist, um die Menschen zu erreichen. Die Welt um uns herum ändert sich. Deswegen muss sich die Gemeinde diese Fragen immer wieder stellen, um Gottes Auftrag treu bleiben zu können.

Als nächstes werde ich einen Eintrag posten, in dem Tim Keller erklärt, wodurch sich eine missionale Gemeinde in einer westlichen Großstadt in der Praxis auszeichnet, also wie sie diese Fragen beantwortet.

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