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Gnade für Alle!

Gott lässt die Sonne über Gute und Böse scheinen und gibt den Regen den Gerechten und den Ungerechten. Er sendet fruchtbare Zeiten und schenkt Vieles, das dem allgemeinen Wohlergehen der Menschheit zuträglich ist. Zu den häufigsten Segnungen, die man zu dieser Quelle zurückverfolgen kann, zählen Gesundheit, materieller Wohlstand, allgemeine Intelligenz, Begabungen in den Bereichen der Kunst, der Musik, der Redekunst, der Architektur, des Handels und der Erfindungen. (…)

Die Allgemeine Gnade ist der Ursprung aller Ordnung, Kultiviertheit, Kultur, allgemeiner Tugend usw. in der Welt. Durch diese Dinge übt die Wahrheit verstärkt ihre moralische Kraft auf Herz und Gewissen der Menschen aus, und hält so deren böse Leidenschaften in Schach. Diese Gnade führt nicht zur Erlösung, ist aber der Grund, weshalb unsere Erde noch nicht zur Hölle geworden ist.“ (Loraine Boettner)

Gottes Segnungen sind überall, an den unterschiedlichsten und auch unwahrscheinlichsten Orten, anzutreffen. Diese Tatsache nennen Theologen ‚Allgemeine Gnade‘. ‚Allgemein‘, weil sie für alle Menschen da ist. ‚Gnade‘, weil Gott nicht darauf schaut, wer mehr oder wer weniger Segnungen verdient hätte. Er verteilt freigiebig, großzügig, an Gute und an Böse gleichermaßen.

Für uns als Gemeindegründung ist es wichtig, Allgemeine Gnade zu verstehen, und sie auf die Bereiche Kunst, Kultur und Musik anzuwenden. Warum?

Die Lehre von der allgemeinen Gnade hilft uns, Gottes Güte in der ganzen Schöpfung anzuerkennen, und befähigt uns, in einer gefallenen Welt missionarisch zu sein.“ (Tim Keller)

Gottes Güte in der ganzen Schöpfung anerkennen: Wenn der Mensch künstlerisch aktiv ist, spiegelt er damit (ob er will oder nicht) seinen Schöpfer wieder – Gott wird sichtbar. In der Kunst sehen wir Spuren von Gottes Weisheit, Schönheit und Wahrheit. Wir erleben transzendente Augenblicke wenn wir z. B. vom Anblick eines Gemäldes oder beim Hören eines Musikstücks sprachlos und überwältigt sind. Zurecht nennen wir solche Erfahrungen ‚göttlich‘. Paulus schreibt im Bezug auf das Essen: „Denn alles, was Gott geschaffen hat, ist gut, und nichts ist verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird; denn es wird geheiligt durch das Wort Gottes und Gebet.“ (1. Tim4,4-5LUT)  Gottes Güte wird in der ganzen Schöpfung sichtbar – das sollte uns dankbar machen und in uns Liebe zu Gott inspirieren.

In einer gefallenen Welt missionarisch sein: Um unsere Mitmenschen zu lieben, müssen wir sie verstehen. Kunst, Kultur und Musik sind der Schlüssel zu diesem Verständnis. Sie sagen nicht nur etwas über die Künstler selbst, sondern drücken auch immer den Zeitgeist aus (in der modernen Kunst z. B. Relativismus, Subjektivismus; in der postmodernen Kunst das Aufweichen aller Grenzen, Ängste, Unsicherheit, Zynismus, Romantik). Auch wenn wir vielleicht das Offensichtliche in der Kunst bevorzugen, und uns die Zerrissenheit, die offenen Fragen und Wunden unserer Umwelt irritieren oder verstören – wir müssen dieser Welt, die Gott liebt, in die Augen schauen.

Aber dann müssen wir uns auch überlegen, wie wir die Verbindung zum Evangelium herstellen können. Zum Beispiel das Motiv der Sehnsucht wie der Kirchenvater Augustinus als Sehnsucht nach Gott deuten. Oder in der Orientierungslosigkeit und Verunsicherung Symptome einer leidenden Gesellschaft sehen, die Gott heilen möchte. Eine missionale Gemeinde wird sich die Mühe machen, ihre Umwelt zu verstehen, und die Brücke zu ihr zu schlagen. ‚Allgemeine Gnade‘ hilft uns, nicht alles Nichtchristliche zu verteufeln, sondern Lernende und Brückenbauer zu sein.

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Das Was und Warum der Liturgie

Christliche Gottesdienste können sehr unterschiedlich sein. Manche sind eher durchdacht und förmlich, andere eher spontan und informell. Um diese Unterschiede zu erklären unterteilt man oft in ‚liturgische‘ und ‚freie‘ Gottesdienste. Ich verstehe die Absicht dahinter, aber sprachlich gesehen ist es Unsinn, denn jeder Gottesdienst hat eine Liturgie.

Das Was

Liturgie bedeutet eigentlich nichts Anderes als die Gottesdienstordnung. Dabei spielen vor Allem drei Faktoren eine Rolle: Ort, Zeit und Ablauf. Sobald man in der Planung für einen Gottesdienst festlegt, wo man sich wann trifft, und was man dann wie und in welcher Reihenfolge tut, hat man eine Liturgie geschaffen.

Die verschiedenen Konfessionen, Traditionen und Denominationen haben in ihrer Liturgie auch unterschiedliche Riten. Selbst bei den ganz Freien und Spontanen werden zum Beispiel zum Gebet die Köpfe geneigt, die Hände gefaltet oder gehoben, die Augen geschlossen, und (je nach Grad der Amerikanisierung) das Gebet mit ‚in Jesu Namen‘ abgeschlossen. Beim Abendmahl liest man die Einsetzungsworte aus 1. Korinther 11. Selbst die halbstündige Worshipzeit ist Teil einer Liturgie aus der charismatischen Gemeindetradition. Jede Gemeinschaft entwickelt in ihrer Anbetung ihre eigenen Rituale und eigene Symbolik. Die Frage bei der Liturgie ist also nie, ob es sie gibt, sondern wie sie aussieht und was dahinter steht.

 

Das Warum

Bei Liturgie geht es nicht um Ästhetik – es geht um Theologie und um respektvolle Höflichkeit.“ (Eugene Peterson)

Im mosaischen Gesetz regelte Gott die Anbetung für sein Volk ziemlich detailliert. Dabei sollte sich Mose genau an die Vorgaben halten, die er gezeigt bekommen hatte. Die Liturgie der ersten Christen war in vielerlei Hinsicht einfach eine Fortführung der jüdischen Synagogengottesdienste. Die ‚liturgischen‘ Gottesdienste haben ihre Wurzeln also im Alten Testament und im Judentum zur Zeit von Jesus. Sie sind nicht – wie manche meinen – ein späteres Produkt einer geistlich toten und deswegen auf Äußerlichkeiten fixierten und institutionalisierten Staatskirche.

Das Neue Testament ist übersät mit Spuren der frühchristlichen Liturgie (Buchtipp zum Thema: Gottesdienst ist mehr von Thomas Schirrmacher). Aber eine Stelle ist besonders aufschlussreich: 1. Korinther 14.

Die Gemeinde in Korinth war sehr charismatisch – es gab viele übernatürliche Manifestationen von Gottes Gegenwart. Paulus ermutigt dazu, diese Gaben weiterhin zu suchen (12,31), und für das spontane Wirken des Heiligen Geistes offen zu bleiben, zu erwarten, dass Gott wirkt (14,5). Auf diesem Hintergrund macht er zwei Punkte, die helfen, das ‚Warum‘ einer durchdachten Liturgie zu beantworten.

  1. Liturgie spiegelt Gottes Wesen wieder – Gott ist kein Gott der Unordnung

Paulus rät nicht vom Sprachengebet ab, gibt aber konkrete Anweisungen: Nicht mehr als zwei oder drei, nacheinander, und nur mit Auslegung. Ähnlich beim prophetischen Reden: zwei oder drei, nacheinander, und nur mit Beurteilung. Für den Gottesdienst gilt: „Alles soll angemessen und ordentlich geschehen.“ (40) Seine theologische Begründung fasziniert: „Denn Gott ist nicht ein Gott der Unordnung, sondern des Friedens.“ (33) Für Paulus war es wichtig, dass die Gottesdienstordnung Gottes Wesen widerspiegelt. Klarheit, Übersichtlichkeit und Ordnung bringen Ruhe („Frieden“) in den Gottesdienst. Und das entsprach für Paulus dem Charakter Gottes mehr als das spontane Durcheinander der korinther Gemeinde.

  1. Liturgie ist hilfreich für Besucher – Liebe in den Mittelpunkt

Der alles entscheidende Faktor war für Paulus die Liebe. Das bekannte Kapitel 13 ist ein Plädoyer dafür, die Liebe in den Mittelpunkt eines Gottesdienstes zu stellen.

Liebe für die anderen Christen: „Aber in einer Gemeindeversammlung spreche ich lieber fünf verständliche Worte, die anderen helfen, als zehntausend Worte in einer anderen Sprache.“ (14,19) Nicht die persönliche Selbstverwirklichung und die eigene Freiheit sollen im Mittelpunkt stehen, sondern die Frage: Was hilft meinen Glaubensgeschwistern am ehesten weiter?

Liebe für Besucher: „Stellt euch nur einmal Folgendes vor: Ihr seid als ganze Gemeinde am selben Ort versammelt und fangt alle an, in Sprachen zu reden, ´die von Gott eingegeben sind`. Und nun kommen Leute dazu, die noch nicht viel oder noch gar nichts vom Glauben wissen. Werden sie nicht sagen: »Ihr seid verrückt!«? Und dann stellt euch vor, ihr alle verkündet prophetische Botschaften. Wenn jetzt jemand dazukommt, der vom Glauben nichts oder nicht viel weiß, macht alles, was ihr sagt, ihm bewusst, dass er ein Sünder ist. Durch alles, was er hört, sieht er sich zur Rechenschaft gezogen, und seine verborgensten Gedanken kommen ans Licht. Er wird sich niederwerfen, um Gott anzubeten, und wird ausrufen: »Gott ist wirklich in eurer Mitte!« (23-25; NGÜ) Paulus war seeker sensitive. Er machte sich darüber Gedanken, welche Reaktionen bei einem Nichtchristen durch das Verhalten von Christen im Gottesdienst hervorgerufen werden könnten. Eine durchdachte Liturgie macht es möglich, die Liebe (vor Allem zum nichtchristlichen Besucher) wirklich in den Mittelpunkt zu stellen. Das völlig Freie und Unüberlegte kann Besucher leicht verunsichern und oberflächlich oder flapsig wirken. Und gerade wegen dem großen Kontrast zum hektischen, unordentlichen und überfordernden Innenstadtleben kann ein ordentlicher, übersichtlicher Gottesdienst für einen Besucher wirklich wohltuend sein!


Warum eine neue Gemeinde in der Kölner Innenstadt?

Warum gründen wir in der Kölner Innenstadt eine weitere christliche Gemeinde? Gibt es nicht schon genug Kirchen in Köln? In der Innenstadt allein gibt es natürlich den Dom als architektonisches Herz der Stadt, die 12 romanischen Altstadtkirchen, fünf evangelische Kirchen und vier evangelische Freikirchen. Das sind insgesamt 22 Kirchen für über 130.000 Innenstadtbewohner.

Bei unseren wöchentlichen Umfragen gaben nur 5% der Befragten spontan an, dass es noch nicht genug Kirchen und Gemeinden in Köln gäbe. Gleichzeitig besuchen aber nur 14% der am Rudolfplatz Befragten regelmäßig (wöchentlich oder monatlich) einen christlichen Gottesdienst. Woran liegt das?

Unsere Erfahrungen durch die Gespräche und Umfragen innerhalb des letzten Jahres decken sich mit dem, was die Medien schon seit einiger Zeit berichten: das Interesse an Spiritualität und Glauben wächst zwar, aber viele (vor Allem junge) Menschen nehmen die bestehenden Kirchen und Gemeinden nicht als die Orte wahr, an denen diesem Bedürfnis wirklich begegnet wird (ob zu Recht oder zu Unrecht, darüber kann man natürlich streiten). Also: die Nachfrage steigt, aber die Zahl der Gottesdienstbesucher sinkt.

Unsere These: nicht nur die Zahl, sondern auch die Art der Kirchen ist entscheidend. Es gibt zwar einige Kirchen, aber die tatsächlich angesprochene Zielgruppe ist bei einem Großteil der Kirchen und Gemeinden die Selbe. Wir glauben, dass es für die unterschiedlichen Generationen und Milieus verschiedene Arten von Kirchen und Gemeinden braucht. Vielfalt ist gefragt.

Wir brauchen nicht nur neue Gemeinden, die als Anlaufstelle für Leute wahrgenommen werden, deren Interesse bereits geweckt ist – wir brauchen Gemeinden, in denen der christliche Glaube glaubwürdig, relevant und mutig gelebt wird, und dadurch auch bei Kirchen- und Glaubensfernen neues Interesse weckt. Wir wollen eine solche Gemeinde gründen.

Für diejenigen, die sich für eine missions-theologische Antwort auf diese Frage interessieren, empfehle ich den Vortrag von Tim Keller „Why plant churches?“ (Skript hier auf Deutsch).


Treffen Nummer Zwei

Das nächste Vorab-Treffen für alle Interessierten findet diesen Sonntag, wieder von 17-19 Uhr, bei uns statt. Bitte gebt mir kurz Bescheid, wenn ihr vorbeikommt!

Aus unserer Dienstphilosophie reden wir dieses mal über unser Profil. Dazu gehören folgende drei Punkte:

1) Missional. Jesus sandte seine Jünger in die Welt, um ihn zu bezeugen. Beim missional sein geht es nicht in erster Linie um bestimmte Aktionen oder Dienste, sondern um eine Ausrichtung (nach außen) und um ein Selbstverständnis (die Gemeinde ist ein Missionar).

2) Kontextualisieren. Wir wollen das christliche Zeugnis mit unseren Worten und unserem Leben so ausdrücken, dass bei unserem Umfeld wirklich das ankommt, was Gott sagen möchte. Dazu müssen wir nicht nur den Kern unserer eigenen Botschaft, sondern auch unser Umfeld wirklich kennen und verstehen.

3) Stadtchristen. „In einer Stadt gibt es mehr Ebenbild Gottes pro m² als sonst irgendwo auf der Welt.“ (Tim Keller) Gott liebt Menschen. Städte sind voll davon. Deswegen liebt Gott Köln. Wir wollen unser Christsein bewusst im Kontext dieser Stadt und für diese Stadt leben.

PS: Es wird wieder Kinderbetreuung geben!

 


Eine Vision für geistliches Leben – Teil 3: Relevant

„Das Verhältnis zwischen Christen und Kultur ist aktuell für die Kirche das entscheidende Thema.“ (Tim Keller)

„Ich versuche nicht, das Evangelium relevant zu machen, sondern die Relevanz des Evangeliums zu zeigen.“ (Mark Driscoll)

Zu unserer Vision für geistliches Leben gehört, dass es nicht nur historisch und organisch, sondern dabei auch relevant für unsere Mitmenschen sein soll. Um das Bild vom Baum aus dem letzten Artikel noch einmal aufzugreifen: der Baum besteht ja nicht nur aus Wurzeln, sondern auch aus einem Stamm, sowie aus Ästen und Zweigen, die sich immer weiter ausstrecken.

Unter „Relevanz“ verstehen wir nicht einfach eine Anpassung der Kirche an ihr kulturelles Umfeld, bei der es nur darum geht, dass Form und Inhalt ‚zeitgemäß‘ sind. Darin sehen wir nämlich die Gefahr, beliebig zu werden, die christliche Identität aufzugeben und damit Verrat an sich selbst zu begehen. Die historischen Wurzeln der Kirche dürfen nicht gekappt werden. Sonst sind wir morgen vielleicht so hip, dass wir übermorgen schon wieder veraltet sind. Relevant sein bedeutet, mit der uns umgebenden Kultur in Berührung zu bleiben. Wir möchten nicht reaktionär und defensiv sein, sondern als Christen proaktiv und dienend am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Nur wenn wir Teil der Kultur sind, können wir sie von innen heraus mit einem gelebten und gepredigten Evangelium konfrontieren.

Konkret: In der Praxis bedeutet das dann folgendes:

Wir wollen authentisch unseren Glauben im Alltag leben. An erster Stelle stehen nicht Programme, Projekte oder Events, sondern eine hohe Sicht des Alltäglichen. Unser geistliches Leben soll zuallererst im Alltag, für Familie, Freunde, Hobby und Beruf relevant sein. D. h., es soll sich dort ausdrücken, und das auf eine Art und Weise, die für unsere Nächsten von Bedeutung ist. Für uns ist das von Theologen so genannte ‚Priestertum aller Gläubigen‘ (alle Christen haben einen priesterlichen Dienst in der Welt) extrem wichtig. Die christliche Kirche ist eine Laienbewegung.

„…einer der Begriffe, der sich in unser christliches Vokabular hineingeschlichen, und dabei unglaublich vielen Seelen geschadet hat, ist „christlicher Vollzeitdienst“. Jedes Mal, wenn wir ihn gebrauchen, treibt es einen Keil der Missverständlichkeit zwischen unser Beten und unser Arbeiten, zwischen unser Gottesdienst Feiern und unser für den Lebensunterhalt Sorgen.“ (Eugene Peterson)

Wir schätzen jede Art von Musik, Kultur und Kunst als Ausdruck der Kreativität und Form der Kommunikation. Der christliche Glaube sollte kulturelle Vielfalt nicht zerstören, sondern feiern. Sie wird in Ewigkeit erhalten bleiben und ermöglicht ein vollständigeres Gesamtbild von Gottes Wesen. Wir glauben, dass der Wunsch, künstlerisch und schöpferisch aktiv zu sein, zu unserer Ebenbildlichkeit Gottes gehört. Außerdem ist Kunst eine Form der Kommunikation. Kunst sagt uns nicht nur etwas über Gott, sondern auch über das Innenleben und die Lebensrealität unserer Mitmenschen.

Wir wollen eine lokale Gegenkultur entwerfen. Das heißt, wir wollen eine alternative Gemeinschaft von Kölnern in Köln und für Köln sein. Nicht eine Subkultur, die sich letztendlich doch einordnen lässt, sondern eine Gegenkultur, wo wir Dinge in Frage stellen, und frei und kreativ überlegen: Wie sähe es aus, wenn die Herrschaft von Jesus in Köln anerkannt und gelebt würde? Das ist unser Experiment.

Wir wollen Verantwortung für die Menschen tragen. Jesus hat seine Gemeinde in die Welt gesandt. Im Rückzug aus der Welt sehen wir deswegen ein sich Drücken vor der gottgegebenen Verantwortung für unsere Mitmenschen. Wir haben nicht nur eine Bringschuld, was das Evangelium angeht, sondern wir sollen gemeinschaftlich Jesus in der Welt verkörpern. Dem gingen (laut Evangelien) auch gesellschaftliche, politische, und soziale Missstände und Nöte nahe. Konkrete Leiden seiner Mitmenschen ließen ihn nicht kalt. „Unsere Liebe darf sich nicht in Worten und schönen Reden erschöpfen; sie muss sich durch unser Tun als echt und wahr erweisen.“ Persönliche Evangelisation und sozial-diakonische Dienste, bzw. gesellschaftliches Engagement, sind deswegen für uns gleich wichtig. Wir finden: man darf sie nicht von einander trennen oder sogar gegen einander ausspielen.


Eine Vision für Anbetung

„Anbetung ist ehrfürchtiges Staunen.“ (Unbekannt)

Anbetung ist natürlich mehr als Musik. Aber in diesem Artikel beziehe ich mich auf die Lieder, die in einem Gottesdienst zu Gott und für Gott gesungen werden. Es ist möglich, diese Zeit über- oder unter zu bewerten. Manche Christen erhoffen sich von dieser Zeit eine Abkürzung zur persönlichen Heiligkeit. Für andere hat das ‚Lieder Singen‘ zwar einen traditionellen Platz in jedem Gottesdienst, ist aber überhaupt nicht mit ihrem Alltag verbunden und kommt nicht von Herzen.

Christen haben schon immer gesungen. Aber was macht eine ‚gute‘ Anbetungszeit aus? Worum sollte es dabei gehen?

Himmel trifft Erde

In der Anbetung geht es primär um Gott, dann um die gläubigen Menschen, die zu ihm singen und als drittes auch um die nicht gläubigen Beobachter und Zuhörer. Alle drei Aspekte, und ihre Reihenfolge, sind wichtig.

  1. Gott ist das Zentrum der Anbetung.

Und als Salomo zu Ende gebetet hatte, da fuhr das Feuer vom Himmel herab und verzehrte das Brandopfer und die Schlachtopfer. Und die Herrlichkeit des HERRN erfüllte das Haus. Und die Priester konnten nicht in das Haus des HERRN hineingehen, denn die Herrlichkeit des HERRN erfüllte das Haus des HERRN.“ (2. Chronik 7,1-2)

Christen singen zur Anbetung Gottes. Seine Gegenwart und sein Charakter werden durch Lieder anerkannt. Weil es um Gott geht, sollte er in den Liedern Priorität haben. Anbetung muss Gott-zentriert sein. Seine ewigen Eigenschaften sind wichtiger als unsere menschlichen, möglichen Reaktionen darauf. Lieder sollen ihn beschreiben, und dabei durch theologische Tiefe, Bilder und Symbole den Verstand und die Vorstellungskraft ansprechen. Intelligent und transzendent sein. Eine Anbetungszeit, in der wir nichts über Gott gelernt haben, und in der wir nicht inspiriert wurden, uns ihn so vorzustellen, wie er tatsächlich ist, ist oberflächlich.

Tendenziell sind alte Kirchenlieder inhaltlich wesentlich gehaltvoller (obwohl in den letzten Jahren einige fantastische Lieder geschrieben wurden!). Moderner Worship hat leider eher Hit-Qualitäten, schafft aber kein Erbe für zukünftige Generationen von Anbetern. Passend zu unserer westlichen Konsumgesellschaft, haben viele Lieder einen eher schnelllebigen Charakter. Um das zu ändern, müssen Anbetungsleiter alles daran geben, gute Laientheologen zu sein, die nicht nur mit all ihrem Verstand, sondern auch mit all ihrer Vorstellungskraft versuchen, Gott zu erfassen. Sie sollen wie ein Schatzmeister sein, der aus der Schatzkammer alte und neue Schätze hervorzaubern kann.

Um Gott musikalisch ins Zentrum zu stellen, braucht es musikalische Qualität und Stilrichtungen, die Gottes Eigenschaften vermitteln: die sanfte Liebe Gottes, seine Eifersucht, seine Erhabenheit, seine Schönheit (Ästhetik), seine Majestät, seinen Zorn, seine Kraft, seine Freude, sein weiches Herz – all das (und mehr!) kann durch Musik ausgedrückt werden. Gute Anbetung strebt dieses Ziel an.

  1. Gottes Gemeinde singt zu ihm

Heavenly fire only resides on an altar made from the ground.“ (Matisyahu)

Gott ist das Zentrum der Anbetung. Aber Gott geht es um den Menschen. Wie sieht die menschliche Seite aus? Für eine echte Begegnung mit Gott muss man genauso kommen wie man ist. Warum? Weil Gott Heuchelei hasst – besonders religiöses Getue, Klischees und falsche Frömmigkeit. Deswegen muss Anbetung ganzheitlich und authentisch sein. Im Liederbuch der Bibel, den Psalmen, kommt genau das zum Ausdruck. Die Psalmen sind in gewöhnlicher Sprache verfasst. Manche sind poetisch, künstlerisch, romantisch. Aber nie kompliziert oder theoretisch. Sie sind voller Emotionen, aber ohne seichte Sentimentalität. In ihnen kommen alle menschlichen Emotionen zum Ausdruck: Freude, Trauer, Enttäuschung, Wut, Fassungslosigkeit und Hoffnung.

In einem Gottesdienst werden – je nach Größe – fast alle dieser Emotionen repräsentiert sein. Als Glaubensfamilie haben wir den Auftrag, nicht nur auf uns zu schauen, sondern auch auf die Anderen. Wir sollen uns mit denen freuen, die fröhlich sind, und mit denen trauern, die traurig sind. Um das auch in der Anbetungszeit umzusetzen, bräuchte es Lieder, in denen inhaltlich und musikalisch die gesamte Bandbreite menschlicher Gefühle und Gedanken Ausdruck finden. Statt dessen sind ein Großteil der Anbetungslieder romantische Liebeslieder, in denen wir unsere stark empfundene Liebe zu Gott beteuern. Aus irgendeinem Grund meinen wir, dass Anbetung immer in diese Richtung gehen muss.

Mein Problem damit ist vor Allem, dass so eine Kluft zwischen Alltagsrealität und dem Gottesdienst geschaffen wird. Gerade Menschen, die Gott ernst nehmen, kämpfen mit Widersprüchen, Verletzungen, Enttäuschungen, sind nicht immer froh und verliebt, sondern auch wütend (auch auf Gott!), oder gleichgültig. Wo sind die Lieder, in denen wir das vor Gott zum Ausdruck bringen – uns vor ihm auskotzen können? Unsere Leben als Nachfolger von Jesus sind keine seichte Liebesschnulze. Warum tun wir mit unseren Liedern dann so als ob? Ich stelle mir vor, dass das für Gott sehr unbefriedigend sein muss. Wir brauchen Lieder, in denen wir singen, was wir wirklich denken und fühlen. Und auch hier wieder Musikrichtungen und musikalische Elemente, die uns helfen, das zu vermitteln, was sich in uns abspielt. So können wir den Höhenunterschied zwischen Anbetungszeit und Alltäglichkeit einebnen. Und die frommen Schuldgefühle, die durch diese Diskrepanz entstehen, können endlich beseitigt werden. Sie haben uns schon lange genug entmutigt.

Authentische Anbetung im Gottesdienst würde uns helfen, den Alltag zu heiligen. Wir singen dann Sonntags als die Menschen, die wir Werktags sind. Direkt nach Paulus‘ Aufforderung „Singt Psalmen, Lobgesänge und von Gottes Geist eingegebene Lieder; singt sie dankbar und aus tiefstem Herzen zur Ehre Gottes.“ schreibt er „Alles, was ihr sagt, und alles, was ihr tut, soll im Namen von Jesus, dem Herrn, geschehen, und dankt dabei Gott, dem Vater, durch ihn.“ (Kolosser 3,16b-17) Beides gehört in einen Atemzug – in das gleiche Lied.

Diese Anbetungsleiter müssten dann pastoral begabt sein. Sie bräuchten den Kontakt zur anbetenden Gemeinde, müssten wissen, was die Menschen bewegt, müssten den Alltag und die Schicksale der Einzelnen kennen.

  1. Wir werden beobachtet…

Heißt es nicht in der Schrift: ›Mein Haus soll ein Haus des Gebetes sein für alle Völker‹?“ (Jesus bei der Reinigung des Vorhofs der Heiden; Markus 11,17)

Die musikalische Anbetung Gottes hat immer auch missionarischen Charakter. Da ist Gott im Mittelpunkt, da sind Menschen, die sich um ihn herum versammeln, eine echte Begegnung zwischen diesem Gott und seinen Menschen. Und dann sind da die Zuschauer. In den prophetischen Visionen alttestamentlicher Propheten vom kommenden Friedensreich des Messias ist das ein Thema, das immer wieder auftaucht: die Nationen werden nach Zion kommen, um dabei zu sein, wie das Volk Gottes anbetet – und um daran Teil zu haben.

In „Worship by the Book“ schreibt Tim Keller:

Israel war dazu berufen, die ungläubigen Nationen mit Gott bekannt zu machen indem sie sein Lob sangen. Der Tempel sollte das Zentrum einer die Welt gewinnenden Anbetung [„world-winning-worship“] sein. Das Volk Gottes betete nicht nur vor dem Herrn, sondern auch vor den Nationen an. Gott sollte vor allen Nationen gepriesen werden. Dazu gehörte, dass die Nationen eingeladen wurden, mitzusingen. (…)

Trotz dieser biblischen Ermahnungen leiten Prediger und andere Leiter einen Gottesdienst normalerweise, als ob keine Nichtchristen anwesend wären. Das führt dann dazu, dass Christen sich gar nicht erst vorstellen können, mal einen nichtchristlichen Freund mitzubringen. (…)

Ein Mangel an Einfachheit (besonders Sentimentalität) oder ein Mangel an Transzendenz (besonders Mittelmäßigkeit) werden Nichtchristen langweilen, verwirren oder kränken. Zielt ein Gottesdienst auf der anderen Seite einzig und allein darauf ab, evangelistisch zu sein, werden die Herzen der Christen nicht mit einbezogen, … Nichtchristen werden so keine Menschen sehen, die durch herrlichen Lobpreis geformt und getragen werden.

Fazit: Zielt der Sonntagsgottesdienst hauptsächlich auf Evangelisation ab, wird er die Gläubigen langweilen. Geht es nur um Erbauung, fehlt den Nichtchristen der Zugang. Richtet er sich aber darauf aus, den Gott, der aus Gnade rettet zu preisen, werden gleichzeitig die ‚Insider‘ etwas lernen und die Außenseiter herausgefordert werden. Gute, gemeinschaftliche Anbetung wird natürlicherweise evangelistisch sein.“

Anbetungszeiten müssen also vor dem Hintergrund geplant werden, dass in einem Gottesdienst eigentlich immer Gläubige und Nichtgläubige anwesend sind – ohne sich dann bei der Planung diese Spannung einseitig aufzulösen. Die Gemeinde Gottes singt in Gegenwart der nicht gläubigen Zuhörer Gottes Lob. Eine gesunde Herausforderung! Die praktischen Konsequenzen deutet Keller bereits an. Wir wollen einladend sein, ohne unsere Identität als anbetendes Gottesvolk zu verlieren. Um diese Brücke zu schlagen, muss ein Anbetungsleiter nicht nur ein guter Laientheologe und ein Pastor, sondern auch ein Missionar sein.

Eine Anbetung, die Gott zum Zentrum hat, in die Menschen wirklich mit hineingenommen werden, die einladend für Außenstehende ist. Das ist meine Vision für Anbetung.


Freundschaft (Teil 2: Freundschaft, Evangelisation & Jüngerschaft)

Wir leben in einer Zeit und einer Gesellschaft, in der alles sauber und schnell laufen soll. Unser Denken ist maschinisiert und mechanisiert. Wir wollen Abläufe optimieren, Effizienz steigern und stehen allem, was man nicht analysieren kann, eher skeptisch gegenüber.

In der geistlichen Welt, dem ‚Reich Gottes‘ ist dieses Denken allerdings Fehl am Platze. Es ist höchste Zeit, die organische Natur geistlicher Abläufe zu begreifen, und sich vor allem klar zu machen, dass wir die geistliche Welt nicht mechanisieren können. Wir müssen die Gesetze der geistlichen Welt studieren, und uns ihnen dann anpassen, wenn wir innerhalb dieser Realität erfolgreich sein wollen.

Das ist wie bei einem Surfer, der die unglaubliche Gewalt der Wellen nutzen will. Er weiß, dass es nicht möglich ist, die Welle zu zähmen. Er muss wissen, wie sich das Wasser verhält, und sich dann diesen Gesetzmäßigkeiten anpassen. Er muss sich auf die Welle einstellen – nicht umgekehrt.

Freundschaft und Evangelisation

Non-relational evangelism is a contradiction. – Evangelisation ohne Beziehung ist ein Widerspruch in sich.“ (Ed Stetzer)

Die meisten Menschen brauchen Zeit, um sich für einen geistlichen Kurswechsel zu entscheiden. Laut Statistiken braucht es im Schnitt 3 Jahre, begleitendes Gebet und kontinuierliches Zeugnis einer nahestehenden Person und am besten noch die geistliche Gemeinschaft einer Gemeinde. Auf diesem Weg wird der Suchende (der nicht selten durch eine Lebenskrise geht) Schritt für Schritt an den Glauben herangeführt. Dabei ist es für die Dauerhaftigkeit ihrer Entscheidung wichtig, möglichst häufig und auf möglichst vielfältige Weise das Evangelium kommuniziert zu bekommen.

Tim Keller schreibt: „Viele Leute haben ganz einfach eine solche Persönlichkeit, bei der Prozesse eine große Rolle spielen. Sie würden nie zum Glauben kommen, wenn sie dazu gedrängt werden. Sie müssen in Stufen kommen.“

Menschen sind keine Maschinen. Wir funktionieren nicht wie ein Programm, bei dem man nur die richtige Taste drücken muss. Gott hat uns als Teil seiner Schöpfung einfach nicht so gemacht. Deshalb ist auch sein Wirken im Menschen normalerweise ein organischer, natürlicher Prozess. Jesus vergleicht die Prozesse der geistlichen Welt mit Hefebakterien oder Samenkörnern (z. B. die ‚Königreichsgleichnisse‘ in Matthäus 13, die geistliche „Geburt“ in Johannes 3 oder der Weinstock in Johannes 15). Wir müssen ebenfalls wieder lernen, in diesen Kategorien zu denken.

Freundschaftsevangelisation ist kein Programm, dass ein Pastor einfach einführen, oder Konzept, dass er durchsetzen kann. Sie ist eigentlich etwas, das fast automatisch passiert, wenn Christen die richtige Einstellung gegenüber ihrem Umfeld und das richtige Verständnis für den Ablauf geistlicher Prozesse haben.

Das bedeutet natürlich nicht, dass man keine evangelistischen Predigten oder spezielle Strategien und Methoden zur Evangelisation braucht. Aber es bedeutet, dass man sie richtig einordnet. In gewissem Sinne sind sie nur das i-Tüpfelchen. Als Christen neigen wir dazu, uns darauf auszuruhen, dass jemand unsere Nachbarn ‚professionell‘ evangelisiert. Dieses Denken und Verhalten ist falsch – und im Innersten wissen wir das auch.

Vielleicht sind wir deshalb eingeschüchtert, weil wir uns zu sehr auf den menschlichen Teil konzentrieren. Wir verhalten uns, als wäre Evangelisation etwas, dass wir für Gott machen müssen, weil es sonst nicht getan wird. In Wirklichkeit ist es ein Werk Gottes. Weil er Liebe ist, streckt er sich immer und ständig nach allen Menschen aus. Er ist es, der allen Menschen überall befiehlt, zu ihm umzukehren (Apostelgeschichte 17,30). „Ja, Gott selbst ist es, der durch uns die Menschen ruft.“ (2. Korinther 5,20b; GNB) Wenn wir vom missionarischen Wesen Gottes echt gepackt werden, wird sich dass ganz natürlich in unseren Beziehungen zeigen: „Wer an mich glaubt, aus dessen Innerem werden Ströme lebendigen Wassers fließen, wie es in der Schrift heißt.“ (Johannes 7,38; NL). In uns wohnt der Geist Gottes, der die Welt von Sünde, Gerechtigkeit und Gericht überführt.

Freundschaft und Jüngerschaft

Jesus kam und sagte zu seinen Jüngern: »Mir ist alle Macht im Himmel und auf der Erde gegeben. Darum geht zu allen Völkern und macht sie zu Jüngern. Tauft sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehrt sie, alle Gebote zu halten, die ich euch gegeben habe. Und ich versichere euch: Ich bin immer bei euch bis ans Ende der Zeit.«“ (Matthäus 28,18-20; NL)

Bei der Evangelisation geht es darum, dass Menschen der christlichen Botschaft ausgesetzt werden. Reagiert jemand auf die Botschaft positiv, haben wir den Auftrag, sie an der Hand zu nehmen und weiter zu führen. Das geschieht vor Allem durch zwei Faktoren: Gemeinschaft („Tauft sie“) und Lehre („lehrt sie“). Bei der Lehre geht es allerdings nicht bloß um das Vermitteln von Information! Jesu Befehl lautet, ihnen beizubringen, alle Gebote zu halten, nicht nur, sie zu kennen. Gebote halten lernen braucht seine Zeit – und persönliche Begleitung.

In seinem Buch „Grow“ schreibt Winfield Bevins:

Das Jüngerschaftsmodell des Neuen Testaments war natürlich und organisch. Jüngerschaft geschieht, wenn Männer und Frauen mit ihrem geistlichen Mentor Zeit verbringen.

Gleichermaßen sollten wir an den Leben der Menschen teilhaben, die wir entwickeln wollen. Wir sollten die Zeit, die wir mit den Leuten mit denen wir Jüngerschaft praktizieren wollen, fest einplanen – und zwar außerhalb der normalen Gemeindeprogramme. Wir müssen uns Zeit nehmen, um mit ihnen zu spielen, zu beten und zu essen. Das bedeutet, dass Jüngerschaft uns etwas abverlangen wird. (…) Es wird uns Zeit, Energie und emotionale Beteiligung kosten, wenn wir die Herausforderung, zu Jüngern zu machen, annehmen wollen. Ich glaube, dass hier der Hauptgrund dafür liegt, dass Gemeinden nicht mehr zu Jüngern machen: es braucht Zeit.“

Robert Coleman schreibt in „Des Meisters Plan der Evangelisation“:

Nachdem Jesus seine Leute herausgerufen hatte, machte er es sich zur Gewohnheit, bei ihnen zu sein. Dies war das Wesentliche an seinem Trainingsprogramm – seine Jünger sollten ganz einfach ihm folgen. (…) Es ist erstaunlich: Alles, was Jesus tat, um diese Männer in seinem Sinn zu unterrichten, war, sie näher zu sich selbst zu ziehen. Er war seine eigene Schule und sein eigener Lehrplan. (…) Seine Jünger waren nicht an äußerer Übereinstimmung erkennbar, nicht durch gewisse Formalitäten, sondern dadurch, dass sie bei ihm waren. So hatten sie an allem teil, was er lehrte (Joh. 18,19).“

Natürlich lernt man auch eine Menge über Bücher, Predigten und Seminare. Aber den stärksten Einfluss auf uns haben – nach meiner Erfahrung – dann doch die Menschen, mit denen wir Zeit verbringen. Aus meinem Leben kann ich bezeugen, dass ich in meinem Leben mit Jesus niemals da wäre, wo ich jetzt bin, hätte ich nicht geistliche Vorbilder und Mentoren gehabt.

Um dieses Prinzip als Gemeinde umzusetzen, brauchen wir vor Allem zwei Tugenden:

a) Demut. Jeder einzelne Christ (Pastoren und Leiter mit eingeschlossen) müssen sich selbst zuerst als Lernende, als Nachfolger verstehen. Jeder braucht dazu Freunde, die ihn/sie in dieser Nachfolge weiterbringen. Ein Freund kann in unser Leben hineinsprechen. Um das zuzulassen braucht es Demut.

b) Gegenseitige Verantwortung. Innerhalb einer Gemeinschaft sind wir füreinander verantwortlich. Haben wir jemanden, zu dem wir eine so gute Beziehung aufgebaut haben, dass wir in sein/ihr Leben hineinsprechen können? Leben wir in der Verantwortung, die wir vor Gott für unsere Geschwister haben?

(Im nächsten Teil geht es um Freundschaft und Leiterschaft. Der Artikel wird ein übersetztes Predigtskript von Falk Scissek, Pastor in der CC Freiburg sein. Auf der diesjährigen Pastorenkonferenz in Siegen predigte er über das Thema „Das Herz der Ältestenschaft“.)


soulfire DNA – Teil 10: Kontextualisierung

Im letzten Teil der soulfire DNA-Serie geht es um die Frage, wie man die christliche Botschaft auf eine relevante Art und Weise in einen bestimmten kulturellen Kontext tragen kann. Kontextualisierung ist in der Bibel ein wichtiges Thema. Das Alte Testament ist der Kontext des Neuen Testaments. Als Jesus Mensch wurde, kontextualisierte sich Gott, um die Menschen zu erreichen und erretten. Die Apostel auf dem ersten Konzil in Jerusalem (siehe Apostelgeschichte 15) aber besonders Paulus hatten ein tiefes Verständnis von kulturellen Unterschieden, Feinheiten, und der Herausforderung, das Evangelium von einer Kultur in eine andere zu bringen.

Alle Menschen sind sich darin gleich, dass sie Sünder sind. (Sünde beschreibt einen Zustand der Unabhängigkeit von Gott, in dem man sein eigener Herr und Retter sein will – sei es durch religiöse Selbstverleugnung oder areligöse Selbstbestimmung.) Gleichzeitig sind Menschen aber auch sehr unterschiedlich. Das sieht man besonders darin, wie sie gemeinschaftlich leben: in den unterschiedlichen Kulturen. Unterschiedliche Kulturen haben unterschiedliche Sprachen, unterschiedliche Werte, unterschiedliche Götzen (Wege, wie sie ihre angeborene Religiösität ausleben), unterschiedliche Fragen. Unterschiedliche Kulturen gibt es nicht nur in den verschiedenen Ländern, sondern auch innerhalb der Länder in den verschiedenen Generationen. Jede Form von Christentum ist immer auch von der Kultur geprägt, in der es gelebt wird. Tim Keller schreibt:

Es gibt kein „un-kontextualisiertes“ Christentum. Jesus kam nicht als verallgemeinertes Wesen auf diese Erde. Mensch zu werden bedeutete für ihn, ein bestimmter Mensch zu werden. Er war männlich, jüdisch, Arbeiterklasse. Es bedeutete ebenfalls, dass er als Mensch in ein bestimmtes soziales und kulturelles Umfeld hineingeboren wurde. Um zu dienen müssen wir inkarnieren, so wie Jesus es getan hat. Christliche Praktiken müssen sowohl eine biblische als auch eine kulturelle Form annehmen. Die Bibel weißt uns zum Beispiel dazu an, Gott durch Musik zu preisen. Aber sobald wir uns dann entscheiden, welche Musik wir dazu verwenden, begeben wir uns in den Bereich der Kultur. Sobald wir eine Sprache wählen, ein bestimmtes Vokabular, ein bestimmtes Level an emotionalem Ausdruck oder Intensität, sobald wir eine bestimmte Illustration in unserer Predigt verwenden, nähern wir uns dem sozialen Kontext der einen Menschen an und entfernen uns gleichzeitig vom sozialen Kontext anderer Menschen. Am Pfingsttag hörten alle die Predigt des Petrus in ihrer eigenen Sprache, ihrem eigenen Dialekt. Aber seitdem können wir nicht mehr gleichzeitig ‚allen Menschen alles werden‘. Deshalb ist die Anpassung an die Kultur unumgänglich.“ (Keller)

Kulturen sind unglaublich verschieden. Es gibt Kulturen, in denen es eine Tugend ist, zu verraten oder zu morden. In anderen Kulturen ist es sogar schon verpönt, jemandes Gefühle zu verletzen. Während die einen die Erhaltung der Familienehre als Lebensinhalt haben, dreht sich bei anderen alles darum, konsequent seinen eigenen Weg zu gehen.

Inwiefern ist die Frage nach dem kulturellen Kontext wichtig, wenn ich die christliche Botschaft zu den Menschen bringen, sie ihnen mit Worten und Taten verkündigen will? Die Antwort wird deutlich, wenn man beginnt, sich folgende Fragen zu stellen: Werden die Menschen, die ich erreichen will, meine Worte verstehen? Werden sie mein Handeln richtig deuten? Wie kann ich mit ihnen kommunizieren? Zum Kontextualisieren gehören 3 Schritte:

1. Schritt: die Botschaft kennen.

Von Anfang an war den Christen klar, dass es nicht darum ging, für jede Generation oder jede Kultur eine neue ‚frohe Botschaft‘ zu finden. „Die Schrift ist nicht ein Picknick, bei dem der Autor die Worte mitbringt und die Leser die Bedeutung.“ (Newbigin) Wir fragen uns beim Kontextualisieren also nicht einfach: „Was wäre jetzt für diese Kultur eine frohe Botschaft?“ Nein: Jesus hat seiner Gemeinde das Evangelium anvertraut. Sie soll diese Botschaft hüten, verwalten und verbreiten. Der überlieferte Glaube ist der Gemeinde „ein für allemal anvertraut“ (Judas 3). Paulus nennt die Gemeinde des lebendigen Gottes den „Pfeiler und eine Grundfeste der Wahrheit. Und groß ist, wie jedermann bekennen muss, das Geheimnis des Glaubens: Er ist offenbart im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, erschienen den Engeln, gepredigt den Heiden, geglaubt in der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit.“ (1. Timotheus 3,15-17) Die Väter, Doktoren und Lehrer der Kirche waren stets damit beschäftigt, Wahrheit und Lüge fein säuberlich von einander zu trennen. So wurden Irrlehrer klar benannt, und entstanden auf den ökumenischen Konzilen die wichtigen Glaubensbekenntnisse.

Unsere Aufgabe ist es, diese Botschaft wirklich zu kennen und zu verstehen. Wir müssen sehr vertraut mit ihr sein, und ihre Kraft nicht nur theoretisch kennen. Die christliche Botschaft kann man mit einem Päckchen Dynamit vergleichen – der Glaube zündet die Lunte. So wird die reinigende, heilende, lebensverändernde Kraft freigesetzt, sie entfaltet ihre volle Wirkung.  Oder mit einem Samenkorn, dass in die Erde eingepflanzt, bewässert und gewärmt werden muss, um ‚lebendig zu werden‘. Kenne ich die christliche Botschaft? Verstehe ich sie? Erlebe ich täglich ihre Kraft?

Zum verstehen der Botschaft gehört allerdings auch, dass ich realisiere, dass auch mein persönliches Verständnis des Evangeliums immer von meinem eigenen kulturellen Hintergrund geprägt ist. Ein kulturell neutrales Evangelium gibt es genauso wenig wie eine neutrale Sprache. Lesslie Newbigin schreibt:

Wir müssen bei der grundlegenden Tatsache beginnen, dass es kein reines Evangelium gibt – wenn damit eine Botschaft gemeint ist, die nicht innerhalb einer bestimmten Kultur verkörpert wurde. Die Bedeutung des einfachsten, verbalen Statements des Evangeliums, „Jesus ist Herr“, ist von dem Inhalt abhängig, den die jeweilige Kultur dem Wort „Herr“ gibt.“

Um kontextualisieren zu können, muss ich meine eigene Kultur und die Kultur desjenigen kennen, den ich mit der Botschaft erreichen will. Dann kann ich von der einen ‚Sprache‘ in die andere ‚Sprache‘ übersetzen.

2. Schritt: den Kontext studieren.

Die Menschen, mit denen ich es zu tun habe, wirklich zu kennen und zu verstehen ist ein Beweis dafür, dass ich diese Menschen liebe. Liebe ist niemals oberflächlich, sie will tief in die Gedanken vor- und in das Herz eindringen. Außerdem ist es notwendig, um sicher zu stellen, dass meine beabsichtigte Botschaft auch wirklich ankommt. Man kann die gleichen Begriffe gebrauchen, und trotzdem etwas völlig Unterschiedliches damit meinen.

Man kennt das vielleicht aus einer Liebesbeziehung. Wenn ich meinen Partner liebe, will ich ihn wirklich verstehen. Ich will sicher stellen, dass er wirklich versteht, was ich ihm sagen will. Deswegen ’studiere‘ ich meinen Partner. Ich will alles über ihn/sie wissen.

Genau so sind Christen als Botschafter von Gottes Liebe in ihr Umfeld gestellt, in ihre Welt gesandt. Dort sollen sie ihre Mitmenschen lieben, indem sie ihnen dienen und ihnen die wichtigste Botschaft der Welt vermitteln. Deswegen ist es nicht möglich, Gott in der Welt zu bezeugen, wenn ich mit dieser Welt nicht vertraut bin.

Es gab eine Phase in der Missionsgeschichte der Kirche, in der das nicht klar war. Und so brachte man den Menschen, die man ‚missionieren‘ wollte, nicht nur das Evangelium, sondern auch noch westliche Kleidung, Sprache, Lebensgewohnheiten, Regierungen, Währung, Politik – kurz: westliche Kultur. Kolonialisierung. Man trennte nicht zwischen Evangelium und Kontext. Das größte Problem dabei war die Herrschaftsbeziehung zwischen Missionaren und den zu erreichenden Menschen: der Glaube wurde den Menschen nicht vermittelt, sondern übergestülpt oder aufdiktiert.

Dann begriff man, dass sich etwas ändern musste, und fing an, Missionare gezielt auf die Kultur vorzubereiten, in welcher der Dienst getan werden sollte. Missionare passten sich der Sprache und Kultur an, lebten mitten unter den Menschen. Sie studierten den Kontext, um dann darin Jesus effektiv zu bezeugen. Sie stellten die wichtigen Fragen: Welche Teile der Kultur spiegeln bereits das Evangelium wieder, und können deswegen behalten und bestätigt werden? Welche Teile der Kultur widersprechen dem Evangelium und müssen deswegen konfrontiert und korrigiert werden? Welche Teile der Kultur sind „neutral“, und können für das Evangelium eingenommen und eingesetzt werden?

Doch was hat das jetzt alles mit unserer geplanten Gemeindegründung in Köln zu tun? Gibt es einen Zusammenhang zwischen Weltmission und Gemeindegründungen von Einheimischen? Es war der (bereits zitierte) schottische Bischof Lesslie Newbigin, der einen wichtigen Beitrag zur Beantwortung dieser Frage leistete. Den Einfluss, den er im 20. Jahrhundert im Bereich Missiologie ausübte, war enorm. Als Missionar arbeitete er jahrzehntelang in Madras/Südindien. Dort sammelte er sehr viel praktische Erfahrung, was Evangelisation, Mission und Kontextualisierung anging. Als er nach Großbritannien zurückkehrte, fiel ihm auf, dass die Christen in der modernen westlichen Welt es versäumt hatten, das Evangelium für die Moderne zu kontextualisieren. Aufgrund der schnellen und drastischen gesellschaftlichen Veränderungen geschah Mission/Gemeindegründung im eigenen Land nicht mehr auf dem selben Hintergrund wie 100 Jahre zuvor. Das Evangelium musste neu kontextualisiert werden. Sein theologisches Lebenswerk entstand durch die Vertiefung dieses Themas.

Für die soulfire-Gemeindegründung bedeutet das, dass die Kultur der Stadt Köln studiert werden muss. Ich bin zwar Deutscher, aber die Unterschiede zwischen Provinz und Großstadt und zwischen liberalen Rheinländern und konservativen Südwestfalen sind groß. Wir wollen Köln kennen, verstehen und lieben lernen. Wir wollen in die Sprache, die Symbolik, die Geschichte der Stadt eintauchen. Die große Frage lautet: Wie muss es aussehen, wenn das Evangelium in Köln lebendig wird?

3. Schritt: die Fusion bewirken.

Die Fusion wird bewirkt, indem die richtigen Fragen gestellt, die richtige Botschaft gepredigt und das richtige Leben gelebt wird.

a) Die richtigen Fragen stellen: Wie kann ich den ‚Geist‘ einer Stadt, ihre Seele, kennenlernen? Was ist die symbolische Geschichte, über welche sich die Stadt definiert, nach der sie lebt (Metanarrative)?

b) Die richtige Botschaft predigen: Die Botschaft muss prophetisch sein. Die Propheten waren die Stimme Gottes aus dem Volk und für das Volk. Ihre Botschaft zeichnete sich nicht nur dadurch aus, dass sie theologisch korrekt war, sondern dass sie die Menschen in ihrer spezifischen Situation ansprach. Die Propheten lehrten, trösteten, überführten und konfrontierten ihr Volk auf einzigartige Weise. Sie durchbohrten Herzen. Sie hatten zwar auch oft eine Botschaft für die umliegenden Völker, doch die Priorität lag auf den eigenen Leuten. „Wahre Kontextualisierung räumt dem Evangelium seinen rechtmäßigen Vorrang ein: seine Kraft, jede Kultur zu durchdringen und in ihrer eigenen Sprache und ihren Symbolen in sie hinein zu sprechen, und zwar das Nein und das Ja, sowohl Gericht als auch Gnade.“ (Lesslie Newbigin)

c) Das richtige Leben leben: Das Evangelium wurde der christlichen Gemeinschaft anvertraut. Sie sollen das Evangelium bekennen, predigen und bezeugen. Christen sind dazu bestimmt, die Botschaft Gottes für ihre Stadt gemeinsam zu verkörpern. An der christlichen Gemeinschaft in einer Stadt sollen die Nichtchristen sehen können, wie es aussehen wird, wenn Gott diese Stadt regiert. Sie sind der Vorgeschmack des Himmels auf Erden in der jeweiligen Stadt.


soulfire DNA – Teil 9: Nach außen gewandt (Teil 2)

Heute geht es darum, die Frage, was der missionale Ansatz konkret in einer Gemeinde bewirkt zu vertiefen. Dazu will ich Tim Keller zu Wort kommen lassen. Hier ein Auszug aus seinem Vortrag „The missional Church“:

 

 

 

Die Elemente einer missionalen Gemeinde

1. Sie spricht die Sprache der Menschen

  • In stark christlich geprägten Kulturen gibt es kaum Unterschiede in der Wortwahl innerhalb oder außerhalb der Gemeinde. (…) Biblische Begriffe sind ‚drinnen wie draußen‘ bekannt. Aber in einer missionalen Gemeinde müssen Begriffe erklärt werden.
  • Die missionale Gemeinde vermeidet ‚kanaanäische‘ Sprache, stilisierte Gebetssprache, unnötigen evangelikalen, frommen Jargon und veraltete Ausdrücke, durch die eine geistliche Atmosphäre geschaffen werden soll.
  • Die missionale Gemeinde vermeidet die „wir/sie-Sprache“, verachtungsvolle Witze, bei denen sich über Menschen mit anderen politischen oder religiösen Ansichten lustig gemacht wird, sowie herablassende und respektlose Kommentare über diejenigen, die sich von uns unterscheiden.
  • Die missionale Gemeinde vermeidet sentimentales, blumiges, inspirierendes Gerede. Statt dessen lässt sie sich mit der freundlichen, bescheidenen aber fröhlichen Ironie, die das Evangelium schafft auf die Kultur ein. Demut + Freude = ‚gospel irony‘ und Realismus.
  • Die missionale Gemeinde vermeidet es, jemals so zu sprechen, als wären keine Nichtchristen gegenwärtig. Wenn du so redest (im Gespräch und vor Menschen), als ob Leute aus jedem Teil deiner Wohngegend anwesend wären (und nicht nur verstreute Christen versammelt sind), werden sich früher oder später immer mehr Menschen aus deiner Umgegend einfinden bzw. eingeladen werden.
  • Wenn all diese gerade aufgelisteten Dinge nicht aus einem Herz fließen, dass wirklich demütig, mutig, und vom Evangelium verändert ist, sind sie nur Marketingstrategien und Manipulationsversuche.

 

2. Sie taucht in die Kultur ein und erzählt deren Geschichten mit dem Evangelium neu.

  • In einer stark christlich geprägten Kultur ist es möglich, bereits ‚christianisierte‘ Menschen zu ermahnen, einfach das zu tun, von dem sie wissen, dass sie es tun sollten – auch wenn man sich kaum oder gar nicht mit den Menschen beschäftigt, ihnen zugehört oder versucht hat, sie zu überzeugen. Es wird eher ermahnt – und dabei häufig über Schuldgefühle gearbeitet. In einer missionalen Gemeinde geht man beim Predigen und Kommunizieren immer davon aus, dass Skeptiker anwesend sind. Deswegen greift man ihre Geschichten auf, anstatt nur von ‚alten Zeiten‘ zu schwärmen.
  • In die Kultur einzutauchen bedeutet, mit der Literatur, Musik, Theater, etc. der Kultur sehr vertraut zu sein und damit zu sympathisieren, weil sie von den Hoffnungen, Träumen, Heldengeschichten und Ängsten erzählen.
  • In der alten Geschichte der Kultur ging es darum, eine gute Person zu sein, ein(e) gute(r) Vater/Mutter/Sohn/Tochter zu sein, ein anständiges, barmherziges, gutes Leben zu führen. In der neuen Geschichte geht es a) darum, frei, selbstbestimmend und authentisch zu sein (Thema: Befreiung von Unterdrückung), und b) darum, die Welt für alle Menschen zu einem sicheren Ort zu machen (Themen: Einbeziehen des ‚Anderen‘ und Gerechtigkeit).
  • Das Neuerzählen dieser Geschichten bedeutet in diesem Fall, dass man aufzeigt, wie wir nur in Christus von der Sklaverei befreit sein und den Anderen ohne Ungerechtigkeit aufnehmen können.

 

3. Sie schult Laien theologisch für öffentliches Leben und Beruf.

  • In einer stark christlich geprägten Kultur kann man es sich leisten, die Leute nur in den Bereichen Bibelstudium, Evangelisation und persönliche Frömmigkeit zu schulen, weil sie im öffentlichen Leben (Arbeit, Nachbarn, usw.) nicht mit grundlegend nichtchristlichen Werten konfrontiert werden. In einer missionalen Gemeinde erhalten die Laien eine theologische Schulung, um für alles eine christliche Sichtweise zu entwickeln und um als Christen in ihrem Beruf aktiv sein zu können. Dabei lernen sie a) welche kulturellen Handlungsweisen in die Kategorie ‚allgemeinen Gnade‘ gehören und deswegen übernommen werden sollten, b) welche Handlungsweisen dem Evangelium entgegenstehen und deswegen abgelehnt werden müssen und c) welche Handlungsweisen überarbeitet und angepasst werden können.
  • In einer missionalen Gemeinde wird das Leben der Laien, die durch ihren christlichen Lebens- und Arbeitsstil die Kultur erneuern und verändern, als gleichwertige ‚Reichsgottesarbeit‘ und geistlicher Dienst anerkannt – auf der gleichen Ebene wie der traditionelle Predigt- oder Lehrdienst.
  • Schlussendlich müssen Christen im öffentlichen Raum im Umgang mit denjenigen, von denen sie sich stark unterscheiden das Evangelium durch echte, biblische Liebe und Toleranz leben. Diese Toleranz sollte mindestens so groß sein wie die, mit der uns Christen von Menschen mit grundlegend anderer Sichtweise begegnet wird. Der Vorwurf der Intoleranz ist vielleicht das bezwingendste Argument gegen das Evangelium in der post-christlichen, westlichen Welt.

 

4. Sie schafft eine christliche Gemeinschaft, die eine überraschende Gegenkultur darstellt.

  • In einer stark christlich geprägten Kultur versteht man unter ‚Gemeinschaft‘ im Grunde genommen einfach eine Reihe von stärkenden Beziehungen, Unterstützung und Fürsorge. Das ist natürlich auch notwendig. Doch in einer missionalen Gemeinde muss eine christliche Gemeinschaft noch weiter gehen, und eine Art Gegenkultur formen, um der Welt zu zeigen, wie grundlegend anders eine christliche Gesellschaft im Bezug auf Sex, Geld und Macht ist.
  • Thema Sex: Wir vermeiden sowohl die Vergötterung von Sex, wie man sie in den säkularen Teilen der Gesellschaft vorfinden, als auch die Furcht vor diesem Thema, wie sie in den traditionellen Teilen der Gesellschaft vorkommt. Außerdem reagieren wir auf die Menschen, deren sexuelle Lebensgestaltung anders aussieht mit Liebe statt mit Feindschaft oder Angst.
  • Thema Geld: Wir werben für radikal großzügigen Einsatz in den Bereichen Zeit, Geld, Beziehungen und Lebensraum für soziale Gerechtigkeit und die Bedürfnisse der Armen, der Immigranten und der finanziell und körperlich Schwachen.
  • Thema Macht: Wir setzen uns für Machtteilung und Beziehungsbau zwischen Rassen und Klassen die überhaupt nicht zum Leib Christi gehören.
  • In einfachen Worten: eine Gemeinde muss sich noch intensiver und konkreter in den Bereichen Barmherzigkeit und soziale Gerechtigkeit engagiert sein als die traditionellen liberalen Kirchen und noch intensiver und konkreter in den Bereichen Evangelisation und Bekehrung aktiv sein als die traditionelle konservativen Gemeinden. Diese Gemeinde soll (…) in keine Schublade passen. Sie nimmt dem Außenstehenden die Möglichkeit, sie als liberal oder konservativ zu kategorisieren (und abzustempeln). Nur diese Art von Gemeinde hat in der post-christlichen westlichen Welt überhaupt eine Chance.

 

5. Sie praktiziert in der Öffentlichkeit so viel wie Möglich christliche Einheit.

  • In einer stark christlich geprägten Kultur, wo ‚jeder ein Christ war‘, war es vielleicht notwendig, dass sich eine Gemeinde darüber definierte, dass sie sich von anderen Gemeinden abgrenzte. Um also eine Identität zu entwickeln, musste man sagen „Wir sind nicht so wie diese andere Gemeinde/Kirche bzw. diese anderen Christen dort!“.
  • Heutzutage ist es jedoch viel aufschluss- und hilfreicher, wenn eine Gemeinde sich im Kontrast zu ‚der Welt‘ definiert, also den Werten einer nichtchristlichen Kultur. Es ist unglaublich wichtig, dass wir nicht unsere Zeit damit verschwenden, andere Gemeinden und Kirchen zu kritisieren und niederzumachen. Tun wir das, spielen wir denjenigen in die Arme, die das Christentum als intolerant ablehnen.
  • Während wir uns vor Ort hinter die Konfessionen stellen, die viele unserer Unterscheidungsmerkmale teilen, müssen wir uns gleichzeitig auch zu anderen Gemeinden und Kirchen ausstrecken und sie unterstützen. Natürlich werden dabei auch heikle Fragen aufkommen, aber wir sollten die Zusammenarbeit als gemeinsames Ziel verfolgen.

soulfire DNA – Teil 8: Nach außen gewandt (Teil 1)

Was ist eine nach außen gewandte Gemeinde? Wie entsteht sie? Und warum ist diese Eigenschaft so wichtig? Um diese Fragen für die Gemeinde zu beantworten, will ich am Beispiel eines einzelnen Menschen erklären, welcher Prozess da abläuft, welche Kraft am Werk ist, und welches Ziel verfolgt wird.

Wie der Mensch tickt.

Jeder Mensch lebt für sich selbst. Bei allem, was er tut, ist er letztendlich auf sich selbst ausgerichtet. Bonhoeffer schrieb: „Sünde ist die Verkehrung des menschlichen Willens (Wesens) in sich selbst. (…) Als sündiger Akt ist jede Entscheidung, die in selbstsüchtigem Sinne fällt, zu beurteilen.“ Das heißt, Sünde ist vor Allem eine Ausrichtung – die Ausrichtung auf sich selbst.

Das kann in der Praxis ganz unterschiedlich aussehen. Da gibt es auf der einen Seite diejenigen, welche die Selbstverwirklichung zur höchsten Tugend erhoben haben. Bei denen ist das wichtigste, das höchste Gut, dass ‚man seinen eigenen Weg geht‘. Persönliche Erfüllung und persönliches Glück sind die großen Lebensziele. Zum Erreichen dieser Ziele nutzen sie zwei Mittel: Selbstfindung (eigene Persönlichkeit, Wünsche und Träume entdecken) und Selbstbefreiung (Abschütteln aller inneren oder äußeren Einschränkungen). Diese Menschen haben eine starke Sehnsucht nach Freiheit, Erfolg und Spaß. Diese Lebensinhalte verfolgen sie pragmatisch: was ihnen hilft, diese Sehnsüchte zu stillen, darf bleiben (da kann auch die Religion zu gehören), was ihnen im Weg steht, fliegt über Bord. Sie haben offensichtlich ein egozentrisches Weltbild.

Auf der anderen Seite ist die ‚alte Schule‘. Das sind die Menschen, welche versuchen, ohne Reflexion und Rebellion glücklich zu werden. Man versucht, sich anzupassen, einzufügen und unterzuordnen – sei es in der Familie, der Gesellschaft, dem Staat oder der Kirche. Man tut ‚das Gute‘ und lässt ‚das Böse‘. Oberflächlich betrachtet das krasse Gegenteil zur anderen Seite. Doch die geistliche Dynamik, die Ausrichtung, die dahinter steht, ist die selbe. Der ‚gute Mensch‘ ist genauso auf sich selbst ausgerichtet. Für ihn sind die guten Taten, das ‚brav Sein‘, sogar die Frömmigkeit nur Mittel zum Zweck. Er sehnt sich nach Geborgenheit und Sicherheit. Und das versucht er, für sich zu erreichen, indem er sich an die gesellschaftlichen Normen hält.

Verlorenheit bedeutet u. a., dass der Mensch (egal, zu welcher Gruppe er tendenziell eher gehört) nur noch sich selbst hat. „Und jeder Gemütszustand, jedes sich Verschließen des Geschöpfes in dem Verließ seines eigenen Gemüts, ist am Ende Hölle.“ (C. S. Lewis) Er kann nicht anders, als sich um sich selbst zu drehen. Selbst bei den Persönlichkeiten, die sich völlig für andere aufopfern, kann es sein, dass sie es letztendlich für das eigene Gewissen, für das eigene Seelenheil tun. Der Mensch ist „in sich selbst gekrümmt“ (Luther), er „kann nicht nicht sündigen“ (non posso non peccare – Augustinus).

„Der Mensch tendiert immer dazu, sich nach innen anstatt nach außen zu wenden, weil er sich selbst ins Zentrum des Universums stellt und nicht Gott. (…) Das ist der Mensch in seiner Rebellion gegen Gott.“ (Francis Schaeffer)

Was das Evangelium bewirkt.

Jesus ist gekommen und gestorben, um uns aus diesem Gefängnis zu befreien. Durch seinen Tod am Kreuz wird Gottes radikale Liebe zu uns deutlich. Und die Botschaft von dieser Liebe zerbricht unsere Ketten. Gott ist Liebe. Er hat uns zuerst geliebt. Als wir noch Sünder waren, ist er für uns gestorben. Wenn wir das glauben, bewirkt diese Liebe in uns Gegenliebe. Sie befähigt uns, das zu tun, was wir vorher nicht tun konnten: wir hören auf, selbstzentriert zu sein, und beginnen, uns um Gott zu drehen. Und so wird auch selbstlose Nächstenliebe möglich. Luther beschreibt diesen Vorgang wunderbar:

„Der Glaube nämlich hat die Art an sich, dass er von Gott alles Gute erwartet und allein auf ihn sich verlässt. Aus diesem Glauben heraus erkennt dann der Mensch, wie Gott so gut und gnädig ist, und aus dieser Erkenntnis heraus wird sein Herz so weich und barmherzig, dass er jedermann auch gerne so wohl tun möchte, wie er fühlt, dass ihm Gott getan hat. So bringt er seine Liebe zum Ausdruck und dient seinem Nächsten von ganzem Herzen, mit Leib und Leben, mit Gut und Ehre, mit Seele und Geist und gibt alles für ihn dran, wie Gott ihm getan hat. Darum sieht er sich auch nicht nach gesunden, hohen, starken, reichen, edlen, heiligen Leuten um, die ihn nicht brauchen, sondern nach kranken, schwachen, armen, verachteten, sündigen Menschen, denen er nützlich zu sein vermag, an denen er sein weiches Herz üben und tun kann, wie Gott ihm getan hat.“ (Luther)

Von der katholischen Seite bekommen wir diese Erklärung von Papst Benedikt XVI: „Im Gegensatz zu der noch suchenden und unbestimmten Liebe ist darin die Erfahrung von Liebe ausgedrückt, die nun wirklich Entdeckung des anderen ist und so den egoistischen Zug überwindet, der vorher noch deutlich waltete. Liebe wird nun Sorge um den anderen und für den anderen. Sie will nicht mehr sich selbst — das Versinken in der Trunkenheit des Glücks –, sie will das Gute für den Geliebten: Sie wird Verzicht, sie wird bereit zum Opfer, ja sie will es.“ (Deus Caritas Est)

Das Evangelium von Jesus Christus befreit den Menschen, der sich nur um sich selber drehen konnte, und befähigt ihn dazu, anderen Menschen zu dienen. Die Motivation ist nicht Angst vor Strafe, oder die Hoffnung, die eigene Seele retten zu können, sondern Dankbarkeit und Freude über die unverdiente Liebe Gottes. Am Anfang des Weges mit Jesus ist das Realisieren und das Umsetzen dieser Freiheit oft noch ziemlich schwach. Jesus nachzufolgen heißt, in dieser Liebe praktisch zu wachsen. So funktioniert also das Evangelium: es kommt zu einem selbstzentrierten Menschen und macht ihn zu einem Gott-zentrierten Menschen, der für seine Mitmenschen lebt.

Was das für die Gemeinde bedeutet.

Leider fällt es häufig schwer, den gedanklichen Sprung vom Einzelnen zur Gruppe zu schaffen. Selbst wenn wir kapiert haben, wie wir als Menschen ticken, und was das Evangelium beim Einzelnen bewirkt, ist uns oft nicht klar, dass wir diese Erkenntnis dann auch auf die Gemeinde übertragen müssen:

Genau wie der einzelne Mensch hat auch eine Gemeinde die natürliche, sündhafte Tendenz zur Selbstzentriertheit. Passt man nicht auf, dreht sich die Gemeinde nur um sich selbst. Sie existiert dann zum Selbstzweck. Jedem soll es ‚geistlich gut gehen‘, wobei geistliche Reife eigentlich ganz anders aussieht. Natürlich soll die Gemeinde dazu da sein, Christen zu stärken, aufzubauen und auszurüsten, damit sie im Alltag als Christen leben können. Aber starke, lebendige Christen sind eigentlich nicht das Endziel, sondern Mittel zum Zweck.

Um dem natürlichen, aber falschen Denken entgegenzuwirken, muss man bewusst das Evangelium auf die Gemeinschaft anwenden. Man muss sich mit der Frage beschäftigen, wozu das Evangelium uns als Gemeinde machen will. Wie sollte das Evangelium der Gnade Gottes eine Gemeinde formen?

Die missionale Gemeinde.

Es gibt evangelistische Gemeinden, missionarisch aktive Gemeinden und missionale Gemeinden. Bei den ersten zwei Modellen stehen eigentlich eher Aktivitäten und spezielle Dienste im Vordergrund: evangelistische Veranstaltungen und Weltmission werden ermutigt und unterstützt. Und diese Dinge sind natürlich notwendig und wichtig. Doch die missionale Gemeinde geht noch etwas weiter – oder sollte ich sagen: tiefer? Bei der missionalen Gemeinde geht es überhaupt nicht in erster Linie um Aktivitäten oder Methoden, sondern um ein theologisches Selbstverständnis: der Platz der Gemeinde in der Missio Dei.

„Missional meint eine Art Glauben und Gemeinde zu leben, die sich an der Mission Gottes orientiert und mitten im Leben stattfindet.“ (Stefan Lingott)

„Die zentrale Realität ist weder Wort noch Tat, sondern das komplette Leben der Gemeinschaft: befähigt durch den Geist, um in Christus zu leben, seine Leidenschaft zu teilen, und an der Kraft seiner Auferstehung teilzuhaben.“ (Lesslie Newbigin)

Missio Dei ist ein lateinischer Begriff, mit dem man ausdrücken will, dass Gott ein sendender Gott ist: Der Vater sandte den Sohn indie Welt. Der Vater und der Sohn sandten den Heiligen Geist in die Welt. Und Jesus sandte seine Jünger in die Welt: „Wie der Vater mich gesandt hat, so sende ich euch.“ (Johannes 20,21) Gott ist ein sendender Gott. Bei diesem Denken steht diese Eigenschaft Gottes, sein Handeln im Mittelpunkt:

„Es ist nicht die Gemeinde Gottes, die eine Mission hat, sondern der missionarische Gott, der eine Gemeinde hat.“ (Rowan Williams)

Wenn diese Realität eine Gemeinde wirklich packt, hört sie auf, sich um sich selbst zu drehen. Sie wird verstehen, dass sie in die Welt gesandt ist, um durch Verkündigung, Zeugnis, Gottesdienst und praktische Dienste dieser Welt das Heil Gottes zu bringen. Nicht nur ist jeder einzelne Christ ein Missionar für sein Umfeld – die Gemeinde ist ein Missionar. Und als guter Missionar befasst sie sich mit folgenden Fragen:

  1. Was genau ist meine Botschaft?
  2. Was genau ist meine Mission?
  3. Wem soll ich diese Botschaft bringen/dienen?
  4. Werden sie die Botschaft verstehen?
  5. Sprechen wir die selbe Sprache?
  6. Haben wir das gleiche Weltbild?
  7. Welche Hindernisse gibt es?
  8. Wie kann ich lernen, unter ihnen zu leben, ohne meine Identität zu verraten?
  9. Welche Teile ihrer Kultur kann ich übernehmen, welche verändern, welche ablehnen?

Dabei folgt die Gemeinde dem Vorbild Jesu, der durch seine Menschwerdung und seine 30 Jahre der Vorbereitung genau durch diesen Prozess gegangen ist, um die Menschen zu erreichen. Die Welt um uns herum ändert sich. Deswegen muss sich die Gemeinde diese Fragen immer wieder stellen, um Gottes Auftrag treu bleiben zu können.

Als nächstes werde ich einen Eintrag posten, in dem Tim Keller erklärt, wodurch sich eine missionale Gemeinde in einer westlichen Großstadt in der Praxis auszeichnet, also wie sie diese Fragen beantwortet.